Darf einem Kind bei eingeschränkter Prognose eine Organtransplantation vorenthalten werden?

Paul1 ist mit einer Cytomegalievirus(CMV)Infektion zur Welt gekommen. Im Rahmen dieser konnatalen Erkrankung kam es zur Mikrozephalie, Leberzirrhose mit Aszites, CMVRetinitis und hypotrophem Ernährungsstatus. Er wird im Alter von acht Monaten wegen Verschlechterung der Leberfunktion auf die pädiatrische Intensivstation eines Universitätsklinikums verlegt und dort mittels einer gastralen Ernährungssonde (PEG) stabilisiert. Paul wirkt zugewandt und wach, aber nach NeurologieFachkonsil wird wegen eines persistierenden frühkindlichen Reflexmusters und Halsstellreflexes, sowie wenig variantenreicher Spontanmotorik in Zusammenschau mit der zerebralen Sonographie (erweiterte Seitenventrikel, thalamostriatale Verkalkungen) eine schwer defizitäre motorische und kognitive Entwicklung erwartet. Unter antiviraler Therapie wird die CMVLast kontrolliert, aber nicht eradiziert (PCRSerum: 300 DNAKopien/ml, Urin 4,8 X 105 Kopien/ml); die Schädigung der Organe Gehirn und Leber ist nicht umkehrbar und die zeitnah zu erwartende Dekompensation der Leberzirrhose würde den raschen Tod bedeuten. Als Therapieoption wird eine Lebertransplantation diskutiert. Diese wird als die einzige erfolgversprechende Möglichkeit für die im Endzustand erkrankte Leber angesehen. Zu diesem Zeitpunkt beträgt der PELDScore (Pediatric Endstage Liver Disease Score) = 18,8. Nach der aktuellen wissenschaftlichen Literatur wird die 1JahresÜberlebensrate nach Lebertransplantation bei kritisch kranken Kindern mit Enzephalopathie und/oder anderen zum Zeitpunkt der Transplantation bestehenden Organschädigungen mit ca. 30 % angegeben, für das Überleben nach längeren Zeiträumen (10Jahre) und für die LangzeitLebensqualität liegen keine Daten vor. Darüber hinaus besteht auch ein beträchtliches Risikoprofil durch die Transplantation: Die erforderliche Immunsuppression könnte die Virusinfektion reaktivieren, darüber hinaus könnte die immunsuppressive Medikation die neurologische Schädigung verstärken und Wundheilungsstörungen nach der Transplantation begünstigen. Die CMV gilt als häufigste virale opportunistische Infektion nach Transplanta1 Name geändert 142123Fall und Kommentaretion mit deutlicher Erhöhung der postoperativen Morbidität und Mortalität. Während schon bei ungünstiger Serokonstellation (Empfänger: CMVseronegativ, d. h. fehlende Immunantwort, da keine CMVInfektion durchgemacht; Spender: CMVseropositiv mit anamnestischer CMVInfektion) nahezu alle Empfänger eine CMVInfektion erleiden, liegt bei Paul diese Infektion schon zum Zeitpunkt einer möglichen Transplantation bereits vor. Unter einem aktuell empfohlenen Konzept einer antiviralen Prophylaxe (z. B. Valgancyclovir) beträgt die Verhinderung CMVassoziierter Komplikationen (CMVassoziierte Organabstoßung, Kolitis, Renitis, fibröse Lymphadenopathie, Nierenfunktionseinschränkung) bei Patienten ohne manifeste CMVLast vor der Transplantation bei etwa 50 %. Für Pauls spezifische Situation (CMVLast vor Transplantation) liegen keine wissenschaftlichen Daten oder Fallberichte bzgl. der CMVKontrolle nach Transplantation mittels antiviraler Therapie vor. Die antivirale Therapie ist mit einem erheblichen Nebenwirkungsprofil verknüpft (vor allem Myelosuppression: Leukopenie, Thrombopenie). Die Mutter von Paul erlebt den gestischen Austausch mit ihrem wachen Sohn als positiv und meint Fortschritte in der Entwicklung zu erkennen. Es fällt ihr schwer, die eingeschränkte Prognose der Entwicklung von Paul zu akzeptieren. Die Eltern (verheiratet, eine ältere Tochter) befürworten ausdrücklich die Möglichkeit der Listung zur Transplantation mittels einer postmortalen Spende und stellen sich auch selbst als LebendSpender zur Verfügung. Im Behandlungsteam besteht quer durch die Berufsgruppen ein erheblicher Konflikt zwischen Befürwortern und Ablehnenden der Transplantation mittels postmortaler Spende. Auch die Eigenspende durch die Eltern wird kontrovers gesehen, ein medizinischer „Spendercheck“ der Eltern wurde noch nicht durchgeführt. Es werden folgende Argumente vorgebracht:• Die Eltern sprechen für das Kind und befürworten die Transplantation als einzige Möglichkeit einer Lebensverbesserung, dies ist als Ausdruck des elterlichen Sorgerechts und ihres grundgesetzlichen Rechtes, Entscheidungen für das Kind gemäß Kindeswohl zu treffen (im Rahmen eines Ermessensspielraums) zu akzeptieren. • Aus Ärztesicht besteht Unsicherheit, ob eine Transplantation – gekennzeichnet durch ein beträchtliches perioperatives Risiko, sowie durch eine erhebliche Invasivität und die Notwendigkeit einer anschließenden langdauernden komplexen Behandlung – das Wohl des Kindes fördert und dem Ziel einer Lebensverlängerung ohne großes Leiden dient: die Indikation wird hinterfragt. • In Zeiten ausgeprägter SpenderorganKnappheit wird kritisch angemerkt, ob es gerechtfertigt sei, bei eingeschränkter Erfolgsaussicht und erheblicher Beeinträchtigung des Empfängers für diesen ein Organ mittels postmortaler Spende einfordern zu dürfen. • Die Bereitwilligkeit der Eltern – vorbehaltlich ihrer medizinischen Eignung – als Spender einer TeilLeber zu dienen, ist mit einem spezifischen Risiko für die Spenderin/den Spender verbunden, dessen Rechtfertigung eine konkrete Erfolgsaussicht und zu erwartende Steigerung des Patientenwohles voraussetzt. Aus diesen Erwägungen leiten sich verschiedene Handlungsoptionen ab, die im Team diskutiert und abgewogen werden: 143123Darf einem Kind bei eingeschränkter Prognose eine Organtransplantation vorenthalten werden?• Verzicht auf eine Listung zur Transplantation. Die damit zu verbindende konsekutive Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen, z. B. der Ernährung wird kontrovers gesehen. Einige Behandelnde plädieren dafür, die „Therapie“ fortzuführen und den „natürlichen“ Verlauf abzuwarten. • Vorstellung des Patienten in der Transplantationskonferenz zur vertieften Abklärung möglicher Transplantationsinhärenten Risiken• Anmeldung zur Transplantation bei Eurotransplant• Medizinische Evaluation der Eltern als mögliche Lebendspender

Teile den Artikel