
Anlässlich ihres Einsatzes in einer Dialysepraxis bemerkte eine Auszubildende zur Gesundheits- und Krankenpflegerin, dass das Heparin-Präparat, das sie einem Patienten zur Hemmung der Blutgerinnung spritzen sollte, aus Schweinegewebe gewonnen wurde. Da es sich bei dem Patienten nach ihrer Kenntnis um einen Muslim handelte, vermutete sie, dass er die Injektion des Präparates aus Glaubensgründen ablehnen würde, wenn er über dessen Herkunft informiert würde. Daher führte sie die Injektion nicht durch und wandte sich an ihre Mentorin, eine Mitarbeiterin der Praxis. Diese zeigte Verständnis für die Haltung der Auszubilden-den und nahm dann die Injektion selbst vor, v. a. um den weiteren Behandlungsablauf nicht zu behindern. Der Patient erfuhr jetzt und auch später nichts von der laufenden Diskussion. Die Auszubildende fühlte sich geschockt und traurig darüber, dass dieser in ihren Augen doch so offensichtlichen Problematik in der Vergangenheit und auch jetzt keine wesentliche Beachtung geschenkt wurde. Sie verwies auf ihr ethisches Dilemma, eine Handlung durchführen zu sollen, die dem vermuteten Willen des über den Sach-verhalt nicht aufgeklärten Patienten zuwider lief. Das ärztliche Praxisteam zeigte wenig Bereitschaft, an den bisherigen Gewohnheiten und Abläufen hinsichtlich der Anwendung von aus Schweinedarm gewonnenem Heparin bei darüber nicht explizit aufgeklärten Patienten etwas zu ändern, in den Augen der Auszubildenden in erster Linie aus Gründen der Wirtschaftlichkeit und der Praktikabilität. Sie wandte sich daraufhin an ihre Schule, von der sie Unterstützung erhielt: Das Thema wurde im Unterricht behandelt und dem klinischen Ethik-Komitee vorgestellt. Alle Beteiligten holten Informationen ein, hier eine Zusammenfassung: Es gibt im Islam den Grundsatz „Not vor Gebot“, was akute, dringend notwendige (medizinische) Maßnahmen und Handlungen zulässt, solange sie für den Erhalt des Lebens und der Gesundheit notwendig sind, auch wenn sie sonst verboten wären, und 82123Heparin für Muslime – Wissenslücke: nicht vegan und nicht halal solange gleichwertige erlaubte Alternativen nicht zur Verfügung stehen. Ob diese Re-gel auch bei nicht dringenden, planbaren Maßnahmen greift, ist fraglich. Hinsichtlich der Verwendung von aus Schwein gewonnenen Pharmazeutika (neben Heparin auch Gelatine in Kapseln etc.) gibt es, so war aus Gesprächen mit Muslimen zu erfahren, auch innerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaft durchaus unterschiedliche Ansichten. Einen Handlungsbedarf sah hier niemand. Wenn Muslime „verbotene“ Substanzen zu sich nehmen, ohne es zu wissen, erleiden sie nach gängiger Auffassung dadurch keinen Nachteil. Sich darauf zu berufen und den Patienten nicht zu informieren, erscheint allerdings ethisch und rechtlich bedenklich. Natürlich können auch andere Patienten aus den unterschiedlichsten Motiven he-raus in der Medizin gebräuchliche Verfahren ablehnen, z. B. Vegetarier, Veganer oder Zeugen Jehovas. Letztere lehnen bekanntlich die Übertragung von Fremdblut ab. Im Falle der Bluttransfusion gibt es nun dezidierte Aufklärungspflichten nach dem Transfusionsgesetz, so dass es hier wohl keiner weiteren Regelung bedarf. Jeder Patient hat also das Recht, auch jenseits von verbreiteten Glaubensgrundsätzen eigene Regeln für sich aufzustellen, auch unvernünftige, etwa die Ablehnung der Einnahme roter Tabletten. Zuständig für die Aufklärung ist grundsätzlich der behandelnde Arzt. Ihm ist es aber wohl nicht zuzumuten, allen Patienten alle Inhaltsstoffe und Verarbeitungs-schritte der voraussichtlich oder aktuell zur Anwendung kommenden Medikamente mitzuteilen, um für jedes die individuelle Zustimmung zu erhalten. Das klinische Ethik-Komitee sprach daraufhin die Empfehlung aus, jeden Patienten beispielsweise im Behandlungsvertrag darauf hinzuweisen, von sich aus behandlungsrelevante persönliche Präferenzen und Ausschlüsse zu benennen, gleichgültig, ob sie religiös, weltanschaulich oder anderweitig begründet sind. Die Rechtsabteilung hielt diesen Hinweis im Behandlungsvertrag für entbehrlich, da dieser ohnehin schon recht umfangreich sei. Außerdem sollte es jedem Patienten klar sein, dass er im eigenen Interesse im Falle der grundsätzlichen Ablehnung von medizinischen Maßnahmen einschließlich etwaiger Arzneimittelanwendungen auf diesen Umstand aufmerksam machen müsse. Letztlich hat sich an den tatsächlichen Abläufen nichts geändert, auch weil es die Auszubildende vermied, in ihrem Arbeitsumfeld „ein allzu großes Fass aufzumachen“, da sie zwar spürte, dass hier Handlungsbedarf besteht, sich aber – bei aller Unterstützung – einem „Gegenwind“ in Form von Unverständnis und/oder Veränderungsunlust ausgesetzt sah. Angesichts der bei uns zunehmenden Zahl muslimischer Patienten und der häufigen Anwendung von Heparin handelt es sich allerdings um ein grundsätzlich zu lösendes Problem, zumal es Alternativpräparate, wenn auch teurere, auf dem Markt gibt.



