
Der 25jährige Herr A. (Fall ist anonymisiert) wird laut Einweisungsdiagnose mit Verdacht auf Hodentumor in chronisch reduziertem Allgemeinzustand und stark kachektischem Ernährungszustand in die Klinik eingeliefert. Der Verdacht bestätigt sich in Form eines nicht seminösem Keimzelltumors des rechten Hodens. Der junge Patient leidet an einem frühkindlichen Hirnschaden mit schwerer geistiger Behinderung, einer spastischen Tetraparese und einer Epilepsie. Herr A. lebt derzeit in einer Pflegeeinrichtung, zuvor wurde er von Geburt an durch die Mutter im häuslichen Umfeld versorgt. Mit der häuslichen Pflege war die Mutter bis an ihre psychischen und physischen Belastungsgrenzen gegangen. Der Patient ist in einem speziellen Rollstuhl mit Fixierung gut zu mobilisieren, rollt eigenständig über die Flure der Einrichtung und nimmt im Rahmen seiner Möglichkeiten am Alltag teil. Der Vater des jungen Mannes ist als gesetzlicher Betreuer eingesetzt, die Mutter ist durch tägliche Anwesenheit in der Pflegeeinrichtung die Hauptbezugsperson. In der Familie gibt es noch mehrere weitere Geschwisterkinder. Der Hodentumor wird mit Einwilligung der Eltern in der Klinik entfernt. Eine Kontaktaufnahme zum Patienten zur Willensermittlung ist wegen des frühkindlichen Hirnschadens nicht möglich. Die Entfernung des Hodentumors verläuft ohne größere Probleme. Einige Monate nach der Orchiektomie wird der Patient mit Blutungen aus dem Oberlappen der linken Lunge in die Notaufnahme eingeliefert und es wird histologisch ein in die Lunge metastasiertes Chorion Karzinom gesichert. Die Hodentumormarker sind stark angestiegen, so dass eine Portanlage mit Zustimmung des Vaters zur Durchführung einer Chemotherapie mit kurativem Ansatz veranlasst wird. Kurz vor Beginn der Therapie wird deutlich, dass bei den Eltern ein Dissens bezüglich der geplanten Behandlung mit Chemotherapie besteht. Die Mutter möchte ihrem Sohn diese Therapie ersparen, da er in seinem Leben schon viel hat erleiden müssen, und gestützt auf ihren Glauben würde sie lieber „den Dingen ihren Lauf lassen“. Der Vater möchte seinem Sohn diese Chance auf mögliche Heilung des Tumors nicht vorenthalten. Die Eheleute tauschen sich sehr intensiv aus. Der Vater: 364123Fall und Kommentare „Ich weiß, mein Sohn ist seit seiner Geburt schwerstbehindert, daran wird sich nichts ändern, aber steht es mir zu, ihm diese Chance vorzuenthalten? Vielleicht lebt er bei erfolgreichem Therapieverlauf noch 30 oder 40Jahre. “Für die behandelnden Ärzte steht hinsichtlich der Frage, ob dem Patienten die Chemotherapie zugemutet werden kann, der eindeutig kurative Ansatz im Vordergrund. Der Urologe gibt zu bedenken, dass sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Therapie nach Protokoll ohne den frühkindlichen Hirnschaden und die schwere geistige Behinderung nicht stellen würde. Im moderierten, interdisziplinären Gespräch durch das Klinische EthikKomitee werden mit Ärzten (Urologie, Intensivmedizin, Hämatologie), Pflegenden und den Eltern alle Positionen besprochen. Die Eltern stimmen nach einem ausführlichen Austausch gemeinsam der Therapie zu. Dem Therapieprotokoll entsprechend beinhaltet die geplante Chemotherapie vier Zyklen über fünf Tage, jeweils über 24 Stunden. Die Durchführung der Chemotherapie auf einer „Normalstation“ ist nicht möglich. Der Patient hat im Bett liegend einen großen Bewegungsdrang und auch unter ständiger Aufsicht ist eine sichere Zufuhr der Infusion nicht möglich. Der Versuch, mit einem leichten Beruhigungsmittel eine erhöhte Compliance zu erreichen, verstärkt die Unruhe noch und die Lautäußerungen nehmen stark zu. Der junge Mann ist kaum zu beruhigen. Zur Durchführung der Therapie wird auf der Intensivstation eine kontinuierliche Fixierung unter einer überwachten Sedierung mit Dexmedetomidin vereinbart. Die Genehmigung für diese freiheitsentziehende Maßnahme wird beim zuständigen Betreuungsgericht erwirkt. Für den Fall möglicher Komplikationen wird besprochen und dokumentiert, dass auf eine Intubation zur invasiven Beatmung und eine eventuelle Reanimation verzichtet werden soll. Die Prognose, den Patienten wieder von einer Beatmung abzutrainieren, wäre aufgrund der Vorerkrankung zu schlecht. Die Punktion eines ausgeprägten hämorrhagischen Pleura Ergusses, die Gabe von Erythrozyten und Thrombozyten Konzentraten, die antibiotische Behandlung einer Pneumonie, die parenterale Ernährung bei stark kachektischem Ernährungszustand und die Umkehrisolation bei schwerer Neutropenie werden jedoch im weiteren Therapieverlauf in Kauf genommen. Abschließend wird Herr A. nach vier durchgeführten Zyklen Chemotherapie zur ambulanten Weiterversorgung in die stationäre Pflegeeinrichtung entlassen. In einer Röntgenaufnahme nach dem 4. Zyklus wird deutlich, dass sich die Tumormasse zwar verkleinert hat, aber keine komplette Remission erreicht werden konnte. Auch der Verdacht auf ein Rezidiv konnte konventionell radiologisch nicht ausgeschlossen werden. Somit stellt sich die Frage nach einem ReStaging und weiterer Diagnostik, die ebenfalls nur in Narkose durchgeführt werden kann. Nach Protokoll wären die nächsten Schritte nun eine Teilresektion der Lunge, die Resektion der retroperitonealen Lymphknoten und eine anschließende Hochdosistherapie. Dies wird in einer erneuten Besprechung der behandelnden Ärzte mit dem Klinischen EthikKomitee diskutiert. Konsens dieser abschließenden Ethikberatung ist der Verzicht auf weitere diagnostische und therapeutische Maßnahmen. Für die Weiterversorgung in der Pflege 365123Ethisch vertretbare Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen zur Durchführung einer Chemotherapieeinrichtung wird ein Palliativdienst eingebunden, um eine gute Symptomkontrolle zu gewährleisten. Offen blieben bezogen auf den Fallverlauf folgende drei Fragen:• Ist es gerechtfertigt einen Patienten insgesamt 20 Tage lang über jeweils 24 Stunden zu fixieren, um in kurativer Absicht eine Chemotherapie zu verabreichen?• Rechtfertigt der Lebenszeitgewinn von Wochen, Monaten oder Jahren die Anwendung von „wohltätigem Zwang“?• Wäre eine palliative Betreuung von Anfang an die bessere Alternative gewesen?



